Rezzo´s Blog

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Zeitgeist versus Ignoranz
oder die Schwierigkeiten der UNION ihren Kompass zu finden

Vorbemerkung: Ein Leser meines ersten Beitrages merkte an, dass dieser zu lange sei. Das mag manche*r so sehen. Ich will mich aber bewusst nicht in die bites and bits twitter kommunikation einreihen, sondern nehme mir die Freiheit, ein Thema so ausführlich wie ich es für angemessen halte, zu bearbeiten.

Unvergessen: In Zeiten der frühen 80iger des letzten Jahrhunderts, in denen wir die Grünen gegründet und in die Parlamente gewählt haben, wurden wir von den damals noch großen Volksparteien CDU/SPD mit ätzender Begleitmusik begleitet.

Zurück in die Steinzeit, zurück auf die Bäume, schallte es uns aus den damals noch um die 40% starken „Fortschritts-Wagenburgen“ der Parteizentralen entgegen. Die Grünen setzen mit dem Thema Umwelt, Fortschritt und Wohlstand aufs Spiel; die Grünen wollen unsere Industriegesellschaft schleifen. Wir Industriekapitäne und wir Industrieverbände und wir Gewerkschaften geben vor, was gut für die Gesellschaft ist. Wir Bauern und Bauernverbände Arm in Arm mit dem Chemiekomplex definieren eine moderne Landwirtschaftspolitik inklusive dem dafür notwendigen Strukturwandel.

Die damaligen politischen CDU- und SPD-Apologeten haben nicht erkannt oder bewusst ignoriert, dass die Grünen mit einem neuen Politikstil das Thema Umwelt erfolgreich und nach und nach unumkehrbar auf der politischen Agenda platziert haben. Der CDU-Abgeordnete und spätere Mit-Gründer der Grünen, Herbert Gruhl, mit seiner Streitschrift „Ein Planet wird geplündert“, war das erste sichtbare Opfer dieser Ignoranz.

Und war es nicht so, dass die gleichen politischen Akteure aus CDU und SPD über 30 Jahre die Grünen in den Parlamenten und das Anwachsen „grünen“ Bewusstseins in der Gesellschaft nicht ernst genommen haben oder wenn, als einzige Reaktion, wo immer es ging, geblockt, gestoppt, gebremst, und verzögert haben? Nach dem Motto: Irgendwann werden die Wähler*innen schon wieder vernünftig und kehren in den Schoß der Volksparteien zurück.

Die etablierte Politik war über Jahrzehnte schlicht nicht auf der Höhe der Zeit oder um den im politischen Diskurs abfälligen Begriff des Zeitgeistes zu benutzen, der an CDU/SPD/FDP über Jahrzehnte komplett vorbei wehte.

Natürlich, in den letzten 10 Jahren und zu Zeiten von Rot-Grün 1998-2005, wenn es nicht mehr anders ging, oder es opportun war, hat man auch nach und nach mit den Grünen koaliert, aber dann mit Metaphern Koch und Kellner versucht, die Grünen so klein wie möglich zu häckseln, damit die herkömmliche Politik ungestört weiter zelebriert werden konnte. Aber auch das zeitigte keinen Erfolg,

Die Grünen setzten sich, wenn auch mit gewissen Schwankungen, konstant im politischen Spektrum fest. Parallel dazu, von den politischen Seismografen außerhalb der Parteien über lange Zeit beobachtet und beschrieben, schritten Veränderungen in Gesellschaft und in Teilen der Wirtschaft schneller als in der CDU/SPD/FDP-Politik fort.

Bis wir heute an einem Punkt sind, dass wir erstmals eine grüne Kanzlerkandidatin mit realen Chancen haben und uns in Umfragen vor die CDU gesetzt haben, wobei ich weit davon entfernt bin, Letzteres über zu bewerten.

Katalysatoren dieser Entwicklung, wie die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die greifbare geostrategische Verschiebung in Richtung Asien und China, sind mit dem althergebrachten Instrument Geld und dem eingespielten Modus des Durchwurstelns nur an den Symptomen kuriert worden.

Erst die mit voller Wucht in eine unvorbereitete Gesellschaft hereingebrochene Corona-Pandemie und der gleichzeitig sich über Jahre, ohne politische Gegenwehr, aufgeschaukelte Klimawandel, der Katastrophenstatus erreicht hat, zwingt die Politik, weg vom Kurieren von Symptomen, zur Stellung existenzieller Fragen und vielmehr zum Handeln in anderen Kategorien als des „Weiter so“.

Dabei konnte man in der politischen Diskussion den Eindruck gewinnen, dass die politischen Akteure mit dem Kalkül spielten, dass die Pandemie den Klimaschutz in der politischen Agenda weit nach hinten verschiebt, wenn nicht sogar in Vergessenheit geraten lässt.

Es gab zahllose Artikel des Inhalts, dass die friday for future Bewegung von der Bildfläche und damit das Thema Klimaschutz aus der politischen Landschaft verschwunden ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Kalkül radikal durchkreuzt und mit seinem historischen Klimaschutzurteil einen Paukenschlag draufgesetzt.

Es hat im Kontext zum Klimaschutz der jungen Generation ein Grundrecht auf Zukunft zugeschrieben, indem es von einer „intertemporalen Freiheitssicherung“ spricht und die Bundesregierung verpflichtet, auch über 2030 hinaus CO2-Minderungsmaßnahmen fest zu schreiben, um Freiheitsgrundrechte der heutigen Generation für die Zukunft nicht zu gefährden. Das höchstrichterliche Dictum, wonach „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in Abwägung (mit anderen Rechtsgütern) bei fortschreitendem Klimawandel weiter zunimmt“, ist neben anderen Kernsätzen eine direkte Handlungsanweisung an die Politik.

Der kursorische Rückblick in die Zeitgeschichte sowie das hochaktuelle Urteil des Verfassungsgerichts machen die Brisanz der CDU in der Frage ihrer personellen und inhaltlichen Positionierung für die anstehende Bundestagswahl und perspektivisch für potentielle Koalitionskonstellationen mehr als deutlich.

Und wie agiert die CDU?

In dem Ablauf der Kanzlerkandidatenkür haben sich die Abgründe der inhaltlichen Leere der Partei in erschreckendem Maße aufgetan. Formal schon daran zu erkennen, dass 4 Monate vor der Wahl noch nicht einmal ein Entwurf eines Wahlprogramms vorliegt. Was nicht so sehr ins Gewicht fallen würde, wenn stattdessen erkennbar wäre, wofür die Partei steht.

Sie changiert zwischen ein bisschen Klimaschutz a la NRW in der Koalition mit der FDP, die Klimaschutz als lästiges Übel mit möglichst wenig staatlicher Intervention dem Markt überlassen will und a la Bayern-CSU, die die große Schwester ernsthaft davor warnt den Klimaschutz den Grünen zu überlassen, was übersetzt heißt, die Union sollte sich mit an die Spitze der Bewegung setzen. Letzteres wird gekontert mit Aussagen „die CDU dürfe nicht dem Zeitgeist hinterherlaufen oder müsse sich in Acht nehmen Grüner als grün zu agieren“. Dies wiederum als Spitze gegen die CSU gemeint, die mit der Umsetzung des erfolgreichen Bürgerentscheids „Rettet die Bienen“ überrascht hat.

Aktuell setzt die CDU zum Zeitgeist völlig konträre Signale: Der frisch gekürte Kanzlerkandidat holt als aller erste herausragende Personalie den auf zwei Parteitagen zweimal unterlegenen Friedrich Merz, der seine politischen Hoch-Zeiten in den 90iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte, als Wahlkampflokomotive in sein Team. Die CDU Thüringen nominiert den wegen offensichtlicher AfD-Nähe geschassten Ex-Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen zum Heilsbringer für die Bundestagswahl. Mit diesen Personalien weht uns nicht der Zeitgeist, sondern damit wiehert uns das tief-konservative Gestern entgegen. Nach dem Motto „back to the future“ kommt hinzu, dass der gesamte Jugendverband der CDU, die Junge Union, im Unterschied zu früheren Zeiten, in denen sie ein Gegengewicht zu den verschnarchten Altvorderen setzten, sich heute selbst als konservativer (verschnarchter) Hort gegen die modernisierte Merkel-CDU definiert.

Wobei sich viele seriöse Analysten einig sind, dass ohne die von Merkel voran gebrachte Öffnung hin zu Mitte-Links, die CDU noch schlechter dastehen würde. Und dafür sprechen auch einige Indizien aus den letzten Wahlen.

Eine CDU in Baden-Württemberg, deren wichtige Repräsentanten – Fraktionsvorsitzender und ein Minister – mehr oder weniger offen, in der Mitte der laufenden Legislatur, den beliebtesten deutschen grünen Ministerpräsidenten, mit dem sie selbst eine Koalition führen, mit einer sogenannten Deutschland-Koalition Schwarz-Rot-Gelb stürzen wollten und einer Spitzenkandidatin, die sich explizit für Merz als CDU-Vorsitzenden aussprach, landete im historisch schlechtesten 21%-Keller. Die Grünen konnten ihren Vorsprung um fast 3% ausbauen.

Noch offensichtlicher in Bayern, wo Spitzenkandidat Söder mit rechts-konservativen Positionen in der Flüchtlingspolitik, in Gesellschafts- und Europapolitik herbe Verluste für die CSU einstecken musste und die Grünen reüssierten.

Der große Unterschied von CSU zur CDU ist, dass Söder offensichtlich seine Lektion daraus gelernt hat. Er erhöht nach dem Verfassungsgerichtsurteil ohne Umschweife und als erster der Union die Schlagzahl im Klimaschutz und treibt die große Schwester mit spürbar schärferen Zielkoordinaten vor sich her.

Während die CDU desorientiert im klimapolitischen und ökologischen nowhere-Land taumelt und in der Diskussion über die Transformation unserer Industrie, abgesehen vom Schlachtruf der Digitalisierung, den alle im Mund führen, blank ist, hat Söder im showdown der Kanzlerkandidatenkür für Union´s-Verhältnisse ziemlich deutliche ökologische Statements abgegeben, die ihm dann den Unions-internen Vorwurf, er würde dem Zeitgeist und den Grünen hinterherlaufen, einbrachte. Begleitet von den Kommentatoren aller Coleur, „….. das ist der Söder, den wir kennen, der pure Machtpolitiker, das Chamäleon, das zu Gunsten von Machterwerb und Machterhalt die politischen Positionen wechselt wie die Hemden etc. etc. ……“

Könnte es vielleicht sein, dass Söder, neben Roettgen, einer der Wenigen in der Union ist, der die Entwicklungen der letzten Jahre nicht ignoriert und nicht dem Zeitgeist hinterherläuft, sondern endlich mal schlicht auf der Höhe der Zeit ist?

Und könnte es vielleicht sein, dass die Bayernwahl für ihn ein Schlüsselerlebnis war, das seinen Kurswechsel nachhaltiger als die vorangegangenen prägte? Seine Stellungnahmen im Kontext zum Kampf gegen Laschet um die Kandidatur, insbesondere seine Pressekonferenz an dem Montag, an dem die Würfel dann abends im CDU-Präsidium gefallen sind, ließ aus meiner Sicht die größere Schwester ziemlich altbacken aussehen. Was sich auch in den Scharmützeln nach der Laschet-Nominierung fortsetzte.

Man darf gespannt sein, welche inhaltliche Aufstellung Kandidat Laschet sich zu eigen macht und ob er in der Lage ist, den Spagat zwischen Söder und Maaßen auszuhalten oder ob die Reibungsverluste so stark bleiben, dass er keinen Wind unter die Wahlkampfflügel bekommt.

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